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Der unbekannte Text: Was steht in Ägyptens umkämpfter Verfassung?

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von Irene Weipert-Fenner

Seit Wochen dauern die Proteste in Kairo rund um die Verfassung an. Das Dekret von Präsident Mursi vom 22. November löste einen öffentlichen Aufschrei aus.  Nun mobilisieren oppositionelle Gruppen und Parteien gegen die Verfassung, über die am Samstag, dem 15. Dezember, das Volk in einem Referendum entscheiden wird. Soviel Aufmerksamkeit der Verfassungsprozess in den westlichen Medien erhalten hat, sowenig wurde über den Inhalt des Textes gesprochen. Hier einige Beobachtungen, die in die Bewertung der gesamten Entwicklung einfließen sollten.

Die Armee bekommt, was sie will

Der Oberste Militärrat hatte seit der Revolution bis zu Mursis ersten Verfassungsdekret im August 2012 beständig in die konstitutionelle Debatte eingegriffen und in mehreren Anläufen versucht, die Interessen der Generäle auf Verfassungsebene abzusichern. Nun sieht man, dass es eine Art Deal zwischen Mursi und dem Militärrat gegeben haben muss, da die zentralen Forderungen der Armeespitze erfüllt wurden. Erstens ist nun zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens konstitutionell abgesichert, dass der Verteidigungsminister ein Offizier sein muss. Wer diesen bestimmt, lässt Artikel 195 jedoch offen. Zweitens behält die Armee unter dem Deckmantel eines Nationalen Verteidigungsrates ihre Budgetautonomie: Geleitet vom Präsident der Republik und mehrheitlich besetzt mit Angehörigen des Militär- und Sicherheitsapparats debattiert dieses Gremium den Haushalt der Armee. Zwar sind auch die Sprecher der beiden gewählten Parlamentskammern sowie der Premierminister und einige weitere Minister vertreten, eine echte Entscheidungsgewalt über die  finanziellen Angelegenheiten hat der Rat jedoch nicht (Art. 197). Drittens behält die neue Verfassung der Armee das Recht vor, Zivilisten vor Militärgerichte zu stellen (Art. 198). Diese Regelung ist zu Recht auf große öffentliche Kritik gestoßen, wurden doch nach der Revolution mehrere tausend politische Aktivisten vor eben jenen Gerichten abgeurteilt.

Insgesamt hat also der Oberste Militärrat ziemlich genau das bekommen, was er seit der Revolution versucht hat, konstitutionell abzusichern. Im Gegenzug scheint die Armee einen zivilen Präsidenten akzeptiert zu haben, der der Verfassung nach der oberste Befehlshaber ist. Zudem halten sich die Generäle nun aus dem Verfassungsprozess und politischem Alltagsgeschäft heraus. Dies ist jedoch noch keinesfalls ein gesichertes Ende der 60-jährigen Militärdiktatur in Ägypten, ein Militärputsch bei anhaltenden Unruhen kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Zudem könnte die Armee aus strategischen Gründen nur eine momentane politische Pause anstreben. Schließlich hatte das Image der Armee sehr gelitten, solange der Militärrat Exekutive und Legislative übernommen hatte und unpopuläre Entscheidungen treffen musste. Diese überlässt man in der aktuellen, politisch wie wirtschaftlich äußerst schwierigen Situation gerne der Muslimbruderschaft.

Keine islamistische Verfassung

Die wohl größte Falschwahrnehmung in vielen westlichen Medien ist, dass mit der neuen Verfassung eine islamistische Ordnung eingeführt würde. In der Tat werden in dem Entwurf „die Prinzipien der Scharia“  etwas konkretisiert, nur: Diese gelten bereits seit 1971 der Verfassung als Hauptquelle der Legislative. Der neue Artikel 219 erklärt nur, dass die Prinzipien der Scharia auch sämtliche Richtlinien sowie  ihre Grundlagen in der Jurisprudenz und den sunnitischen Rechtsschulen umfassen. Wer die Debatte um die Anwendung der Scharia in Ägypten in den letzten Jahrzehnten kennt, weiß, dass es sich hier nicht um eine einfache Umsetzung eines festen Gesetzeskodex handelt, sondern sich Konflikte um sehr unterschiedliche Interpretationen innerhalb dieses Rahmens abspielen. Beim Stichwort Scharia nimmt die Debatte um Normen und Werte sowie Rechte und Freiheiten ihren Anfang, nicht ihr Ende.

Daher ist es von zentraler Bedeutung, ob dies eine offene Debatte sein kann oder ob sie von Religionsgelehrten monopolisiert wird. In letztere Richtung hatten während des Verfassungsprozesses die Salafisten gearbeitet. Sie wollten die traditionsreiche Azhar-Universität als entscheidende Instanz über die Scharia-Kompatibilität von Gesetzen einführen. Damit scheiterten sie jedoch am Widerstand von Säkularen, Vertretern der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder als auch der Azhar selbst. So bleibt das Oberste Verfassungsgericht mit säkular ausgebildeten Richtern die letzte Instanz – wie vor der Revolution.

Auch wenn die neue Verfassung also in keinster Weise eine Theokratie etabliert, gibt es in der Tat problematische Stellen, die mit dem Thema Religion zu tun haben. Weiterhin werden Polytheisten und Atheisten diskriminiert. Neu ist hingegen die bereits erwähnte explizite Bezugnahme auf die sunnitische Rechtstradition, die die Schiiten ausschließt. Weiterhin wird im Namen der Religion das Recht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt, wenn in Art. 44 die Beleidigung von Propheten verboten wird. Dies sollte allerdings nicht überwertet werden, da völlige Meinungsfreiheit auch in Demokratien nie gegeben ist und im Namen der wehrhaften Demokratie auch nicht gewahrt werden kann.

Mögliche Gefahren für Freiheiten und Bürgerrechte

Wirkliche Gefahr könnte einer ägyptischen Demokratie von anderer Seite im Verfassungstext drohen. Zum einen stehen sämtliche Freiheiten und Bürgerrechte unter dem Vorbehalt, die Vorschriften über Staat und Gesellschaft nicht verletzen zu dürfen. Diese Vorschriften beinhalten jedoch sozial konservativ anmutende Formulierungen über die Familie, deren grundlegende Natur der Staat zu beschützen habe. Die Grundlage der Familie definiert Artikel 10 mit dem religiösen Glauben, der Moral und dem Patriotismus. Dies leistet den Sorgen gerade um Frauenrechte in Ägypten unter islamistischer Regierung weiter Vorschub. Ähnliches gilt für Artikel 11, der dem Staat die Sorge um die allgemeine Ordnung aufträgt, zu der auch religiöse und nationale Werte zählen. Wohlgemerkt wird hier explizit nicht von „islamischen“, sondern allgemein „religiösen“ Werten gesprochen. Das größte Problem jedoch, das viele Kritiker dieser Verfassung aufführen, ist, dass sämtliche Artikel stets auf ein Gesetz verweisen, das genaueres regeln wird. Dies gilt für sämtliche politischen Rechte und Freiheiten, aber auch im Bereich Wirtschaft und Soziales, in dem viele wünschenswerte Entwicklungsziele zwar erwähnt werden, aber konkretes nicht zu finden ist. Das ist durchaus richtig, jedoch führt diese Kritik eher zu der Frage, was eine Verfassung tatsächlich leisten kann und soll. In der Tat soll ein Verfassungstext einerseits eine Ordnung etablieren und sichern, andererseits muss der Text selbst Flexibilität beinhalten, um politische Entwicklung auch ohne ständige Verfassungsänderung zuzulassen. Was es hierfür jedoch braucht, ist das Vertrauen der Bürger auf die Akteure, die die Verfassung implementieren werden, also Legislative und Judikative.

Die Verfassungskrise als Vertrauenskrise

Der Verfassungstext beinhaltet zweifellos problematische Stellen, aber er könnte auch den Rahmen für eine weitere Demokratisierung bilden. Die zentrale Frage ist vielmehr, wer den Muslimbrüdern, ihrer Partei, ihren gewählten Abgeordneten und Präsidenten glaubt, dass sie Ägypten in eine demokratische Zukunft führen werden. Dieser Glaube wurde seit der sukzessiven Machtübernahme immer wieder erschüttert, beispielsweise durch die Einschränkung der Pressefreiheit gegenüber unabhängigen Medien,  durch die als mangelhaft empfundene Integration von nicht-islamistischen Kräften in den Verfassungsprozess oder durch die Aufhebung der Gewaltenteilung mit dem letzten Dekret des Präsidenten. Ohne diese Maßnahmen rechtfertigen zu wollen, muss man in die Analyse einbeziehen, dass gerade das letzte Dekret vor allem dazu gedacht war, die Armee aus dem Prozess herauszudrängen und demokratisch gewählte Institutionen wie das Parlament vor einer erneuten Auflösung durch die Judikative zu schützen, wie dies unter relativ fadenscheinigen Argumenten vom Militärrat im Juni 2012 initiiert worden war. Im Übrigen werden sämtliche Dekrete mit Inkrafttreten der neuen Verfassung aufgehoben, womit die Gewaltenteilung wieder eingeführt wäre (Art. 236).

Trotzdem steht natürlich die Frage im Raum, ob diese Verfassung, sofern sie angenommen wird, angesichts der massiven Proteste überhaupt als legitim erachtet werden kann. Es ist über das Gesagte hinaus nur schwer einzuschätzen, wie viel Legitimität die konstitutionelle Neuordnung außerhalb Kairos als Herz der Proteste tatsächlich genießt. Vieles wird sich wohl erst im Lauf der Zeit in der Verfassungspraxis herausstellen. Einige klagen die neue Verfassung jedoch gerade dafür an, die wirklichen Konflikte mit diesem Text nicht zu lösen, sondern nur zu vertagen. Das ist durchaus plausibel, aber meines Erachtens steckt darin auch eine Chance für die oppositionellen Akteure, ihre Kräfte zu konsolidieren, um im weiteren Prozess eine mächtigere Stimme zu haben. Ihr Potential kann weiterhin wachsen, sobald die Muslimbruderschaft im Tagesgeschäft der Realpolitik unpopuläre Entscheidungen treffen muss. Die Befürchtung, dass die Bruderschaft zusammen mit der Armee eine neue Diktatur errichtet, ist damit zwar nicht vom Tisch. Es ist aber anzunehmen, dass die frische Erinnerung an die Jahrzehnte lange Unterdrückung der Muslimbrüder durch die Militärdiktatur ein vertrauensvolles Bündnis zwischen beiden Akteuren verhindern wird. Sollte jedoch die Bruderschaft wirklich ein autoritäres System errichten wollen, würde dagegen aber auch die beste Verfassung alleine nichts nützen. So ermüdend und zermürbend es für die ägyptische Bevölkerung sein mag, der Kampf um eine demokratische Ordnung wird in jedem Fall weitergehen.

Irene Weipert-FennerIrene Weipert-Fenner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konflitkforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind autoritäre Regime, Parlamentarismus sowie Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens. [weiter]

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